Besonders spannend ist die Vorgangsweise des Richters in Erfurt, über die Standard-Redakteurin Luise Ungerboeck ausführlich berichtete. Wie das Landesgericht Linz ersuchte das Landgericht Erfurt in einem „Hinweisbeschluss“ (Az.: 8 O 1045/18) den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Vorentscheidungen in 22 gleichgelagerten VW-Einzelklagen, die in Erfurt anhängig sind. Mit so einem Hinweisbeschluss wäre es dem EuGH möglich, die vorgelegten Fragen auch dann zu beantworten, wenn die Verfahren inzwischen zurückgezogen werden.
Tatsächlich hatte VW den Klägern inzwischen Vergleiche angeboten, die offenbar so attraktiv sind, dass die Kläger möglicherweise auf den Gerichtsweg verzichten. Diese Strategie verfolgt VW schon seit einiger Zeit, in Deutschland wie in Österreich. Mit allen Kräften will der Konzern ein für ihn negatives Höchstgerichts-Urteil verhindern, das für viele andere Schadensfälle gelten würde.
Interessant sind jene vier Fragen, die der Richter aus Erfurt dem EuGH laut Standard stellte und für alle Dieselfälle interessant sind. Erstens: Kommt dem Unions- und dem deutschen Zulassungsrecht käuferschützende Wirkung zu? Zweitens: Darf im Fall einer Rückabwicklung des Fahrzeugkaufs dem Käufer ein Nutzungsvorteil von dem zu erstattenden Kaufpreis abgezogen werden, oder gebietet das Unionsrecht bzw. lässt es wenigstens zu, keinen oder nur einen begrenzten Vorteil anzurechnen?
Drittens: Sind die EU-Grundrechte mit zentralen Schutzpflichten (Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit etc.) zu berücksichtigen? Viertens: Stellt das Software-Update, zu dem die Dieselbesitzer vergattert wurden, tatsächlich eine Verbesserung dar oder wurde nur ein „Thermofenster“ eingebaut, das die Abgasreinigung nur auf Temperaturen zwischen 15 und 33 Grad limitiert?
Der Erfurter Richter verweist in seiner Anfrage auch auf die Tragweite eines EuGH-Spruchs auf Verfahren über Deutschland hinaus. Die Hilfestellung durch den EuGH werde „auch Rechtssicherheit für eine Vielzahl weiterer in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Slowenien oder in anderen Mitgliedsstaaten anhängiger Fälle mit sich bringen“, zitiert ihn der Standard.
Der Spruch des EuGH wäre für die Sammelklagen des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) namens 10.000 österreichischer Dieselbesitzer zweifelllos ebenso relevant wie für die rund 400.000 Betroffenen, die sich der Musterfeststellungsklage in Deutschland angeschlossen haben.
Zu einem „beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren“ kommt es vorerst aber nicht, da der dem Weltauto-Konzern das Ansinnen missfiel, 22 Verfahren in einem Aufwaschen in Luxemburg prüfen und europaweit rechtsverbindlich abhandeln zu lassen. VW unterbreitete also allen Streitparteien Vergleichsangebote mit dem Ziel, außergerichtliche Einigungen und Verfahrenseinstellungen zu erwirken.
„Der Verkündungstermin ist aufgehoben worden, weil sich die Parteien in außergerichtlichen Verhandlungen befinden“. bestätigte ein Sprecher des Landgerichts dem STANDARD den Rückzug. Stimmen alle Kläger zu, wäre die Dieselcausa für Volkswagen zumindest in Erfurt vom Tisch. Vergleicht sich nur ein einziger VW-Kunde nicht, könnte die Reise nach Luxemburg fortgesetzt werden.