Nach den Ereignissen rund um die stellvertretende Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung (SZ) kann man nicht zur Tagesordnung übergehen. Mindestens sechs wichtige offene Fragen an die „SZ“, an Medien und die Gesellschaft drängen sich auf. Aber zunächst die Fakten in Kürze.
FAKTEN
Unruhe in der Redaktion
In der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) gibt es Unruhe, auch weil Chefredakteur Wolfgang Krach zuletzt Fehler in der Berichterstattung einräumen musste. Auch seine Nachfolge als einer von zwei gleichberechtigten Chefredakteure (seit 2015) ist offen. Am 18. Dezember 2023 berichtet die deutsche Plattform „Medieninsider“ , dass sie, die Plattform, in Artikeln der stellvertretenden SZ Chefredakteurin „Auffälligkeiten“ entdeckt habe. Der stellvertretenden SZ Chefredakteurin wird unterstellt, in drei Artikeln über Israel – gleich nach Kriegsausbruch -ihre Quellen nicht sauber offengelegt zu haben. An einer von elf beanstandeten Stellen soll sie zwei Sätze (!!) eins zu eins von einer Website abgeschrieben haben. Man berichtet die Reaktion der stellvertretenden Chefredakteurin (die angefragte SZ Chefredaktion schweigt), die da lautet: sie habe gesichertes „Lexika-Wissen“ abgeschrieben. Insgesamt wirft Medieninsider in diesem Artikel der SZ vor, gegen die selbst gestellten hohen Qualitätsansprüche in anderen Fällen verstoßen zu haben.
Umgang mit Quellen beanstandet
Auf diesen Bericht des „Medieninsiders“ springen andere Plattformen und Medien auf. Am 20. Dezember räumt die stellvertretende SZ Chefredakteurin in der Redaktionskonferenz ein, zwei Absätze „Lexika-Wissen“ über einen jüdischen Feiertag ohne Quellenangabe von einer Website abgeschrieben zu haben und entschuldigt sich für diesen Fehler. In der Redaktionskonferenz stellt sich die Chefredaktion -neben Wolfgang Krach auch Judith Wittwer – hinter ihre stellvertetenden Chefredakteurin. Vor allem Chefredakteur Krach sieht im Bericht des „Medieninsiders“ einen einen Angriff auf die gesamte SZ, der von „rechts“ komme und spricht von „Verleumdung“.
Suche nach Maulwurf in SZ
Einen Tag danach, am 21. Dezember, werden die Inhalte dieser Redaktionskonferenz wieder über „Medieninsider“ öffentlich. Weil die Zitate so genau sind und ein Mitschnitt der Konferenz vermutet wird, startet die SZ Chefredaktion mit der Suche nach dem „Maulwurf“ im Haus. Im Einvernehmen mit dem Betriebsrat lässt sie anhand der IP-Adressen prüfen, ob es zwischen SZ und dem „Medieninsider“ Verbindungen gegeben hat, mit Mails oder per Festnetztelefon. Geprüft wurden technische Verbindungen und nicht die Inhalte von Mails oder Telefonaten. Der Redaktionsausschuss wird im Nachhinein informiert. Begründet wird diese Prüfung mit dem Schutz des Redaktionsgeheimnisses. Die Suche bringt nach Angaben der Chefredaktion kein Ergebnis. Erst am 30. Jänner 2024 erfährt die SZ Redaktion in einer Redaktionsvollversammlung von dieser Maulwurfsuche, die sowohl innerhalb der Redaktion als auch von anderen Medien kritisiert. (Später, am 14. Februar 2024 wird der SZ Chefredakteur Krach selbst diese Maulwurfsuche als „unverhältnismäßig“ bezeichnen)
Am 2. Februar berichtet der „Medieninsider“ über diese Redaktionsvollversammlung und über die erfolgte Überwachtung der Kommunikation innerhalb der SZ Redaktion. Chefredakteurin Judith Wittwer habe dabaei allgemein von einem „Vertrauensbruch“ gesprochen und Chefredakteur Wolfgang Krach soll der ganzen Redaktion das Vertrauen entzogen haben. Zum Thema gemacht wurden in dieser Vollversammlung auch Kommunikationsprobleme zwischen der Redaktion und der Chefredaktion sowie unterschiedliche Maßstäbe im Umgang mit Fehlern je nach Personen, so der Medieninsider
Plagiatsjäger Weber
Am Montag, 5. Februar 2024 publiziert die Online-Plattform „Nius“ Plagiatsvorwürfe an der Doktorarbeit der stellvertretende SZ Chefredakteurin, die 30 Jahre zurückliegt und an der Universität Salzburg approbiert worden war. „Nius“ beruft sich dabei auf den österreichischen Plagiatsjäger Stefan Weber, der diese Doktorarbeit bereits untersucht habe und als erste Ergebnis „schwerwiegende Plagiatsverdächtigungen“ gefunden habe. In diesem Artikel kündigt man die weitere Prüfung der Doktorarbeit und eine weitere Plagiatsprüfungen der Artikel der stellvertretenden Chefredakteurin an. „Nius“ erinnert auch an die „Schlappe“ der SZ, die gestützt auf zwei anonyme Gutachten der AfD-Chefin Alice Weidel Plagiat bei ihrer Dissertation vorgeworfen hatte, die nach Prüfung der zuständigen Universität Bayreuth nicht bestätigt wurden.
Am selben Tag, Montag, den 5. Februar 2024, als „Nius“ die neuen Plagiatsverdächtigungen wegen der Doktorarbeit publiziert, kündigt die SZ in Eigener Sache die Einsetzung einer externen Kommission an, die Vorwürfe gegen ihre stellvertretende Chefredakteurin untersuchen soll, bei Texten nicht korrekt zitiert zu haben. Bis zur Klärung will sich die stellvertretende Chefredakteurin vorübergehend aus dem operativen Geschäft zurückziehen. Die SZ kündigt auch an, dass die stellvertretende Chefredakteurin die Uni Salzburg von sich aus darum ersucht hat, die Vorwürfe betreffend ihrer Doktorarbeit zu prüfen.
Am nächsten Tag, 6. Februar deckt der „Spiegel“ auf, dass die Julian Reichelt, Gründer und prominentes Gesicht von „Nius“ den Plagiatsjäger Weber mit der Plagiatsprüfung der Doktorarbeit der stellvertretenden SZ Chefredakteurin beauftragt habe, was „Nius“ bestätigt. Es soll sich um „einen niedrigen vierstelligen Betrag“ handeln.
Reichelt hatte im Herbst 2021 seine Funktion als Chefredakteur der „Bildzeitung“ verloren, nachdem ihm Machtmissbrauch von Mitarbeiterinnen vorgeworfen wurde und arbeitet nun für die privat gesponserte Plattform „Nius“, die als rechts gerichtet gilt. Auf der 292 Seiten umfassenden Doktorarbeit der stellvertretenden SZ Chefredakteurin habe Weber bis dahin 13 Stellen als plagiatsverdächtig ausfindig, berichtet „Nius“.
Shitstorm
Befeuert durch die Darstellung von „Nius“ bricht ein riesiger Shitstorm gegen die stellvertretende Chefredakteurin und die „SZ“ vor allem in den sog. „sozialen“ Medien aus.
Ungeachtet dessen geht der Shitstorm weiter.
Am Dienstag (6. Februar) und Mittwoch (7. Februar) kündigt „Nius“ an, sämtliche Artikel der stellvertretenden SZ Chefredakteurin durch Weber auf Plagiat untersuchen zu lassen, auch jene, die sie vor ihrer Zeit in der SZ geschrieben hatte. Die „Zeit-Online“ berichtet am Mittwoch unter Berufung auf Weber, dass nach „einer ersten Analyse der ersten 69 von ca. 8.000 Seiten fast jeder Artikel problematisch“ sei.
Am Donnerstag 8. Februar um 4.33 Uhr Früh schreibt die angegriffene Spitzenjournalistin in einem Mail an Weber, „die Jagd ist beendet“. Sie verfasst Abschiedsbriefe, dann verliert sich ihre Spur.
In der Folge kommt es zu einer Suchaktion nach ihr. Dass die stellvertretende Chefredakteurin als vermisst gilt und Suizid befürchtet wird, wird im Laufe des Donnerstags in vielen deutschen und österreichischen Medien bekannt: unter Nennung ihres Namens.
Als sie am Freitag 9. Februar um 11 Uhr lebend, aber stark unterkühlt gefunden wird, geht diese Meldung neuerlich über viele Medien, wieder mit voller Namensnennung.
OFFENE FRAGEN
1. Frage
Warum haben die Medien in ihrer Berichterstattung sofort den vollen Namen der stellvertretenden Chefredakteurin genannt?
Das Mediengesetz schützt nicht nur Medien, sondern auch Personen, über die Medien berichten. Eine volle Namensnennung ist ausnahmsweise nur dann erlaubt, wenn dies von öffentlichem Interesse ist – was in diesem Fall fraglich ist. Neben dem Mediengesetz gibt es im Journalismus aber auch einen ethischen Kodex, der es mit Sicherheit nicht erlaubt, jemanden unter voller Namensnennung als suizidgefährdet zu verdächtigen – ohne Beweise. Die beteiligten Medien müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie dermaßen schonungslos gehandelt haben – auch die sogenannten Qualitätsmedien, die bei diesem Spiel mitmachten.
2. Frage
Warum hat sich die „SZ“ nicht hinter ihre stellvertretende Chefredakteurin gestellt und offenbar gar nicht versucht, sich rechtlich gegen diese Anschuldigungen zu wehren?
Statt rechtliche Schritte zu ergreifen, hat sich die „SZ“ auf noch mehr Kontrolle (Suche nach Maulwurf, externe Kommission einrichten) und den vorläufigen Rückzug der Beschuldigten von ihrer operativen Tätigkeit fixiert und damit (gewollt oder ungewollt) den Eindruck erweckt, man habe das Vertrauen in die Arbeit ihrer langjährigen Spitzenjournalistin verloren. Wie kann ein Qualitätsmedium dermaßen überreagieren, nur weil man bei einer 292 starken Doktorarbeit 13 plagiatsverdächtige Stellen gefunden hat? Davon sollen laut Analyse Falter-Redakteurin und Historikerin Barbara Toth mindestens die Hälfte Stellen reine Zusammenfassungen von Kapiteln sein, in denen die Quellen ohnehin zitiert wurden? Wenn mit den heutigen strengeren Prüfmethoden bei einer 30 Jahre alten Doktorarbeit nur 6 Fehler gefunden werden, spricht das – ganz im Gegenteil – für eine hohQualität dieser Arbeit.
3. Frage
Warum geht niemand entschlossen genug gegen das „Geschäftsmodell“ des „Plagiatsjägers“ Stefan Weber vor?
Weber erhebt für anonym bleibende Auftraggeber gegen Bezahlung Plagiatsverdächtigungen gegen wissenschaftliche Arbeiten von Personen, ohne ihnen oder den Universitäten die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Nicht genug damit, geht er mit solchen Verdächtigungen sofort in die Öffentlichkeit, ohne die Auftraggeber zu nennen. Er ruiniert damit bewusst die Existenz von Menschen. Weber schwingt sich zum Kläger und Richter in einer Person auf und stellt Menschen an den Pranger, ohne die erhobenen Vorwürfe zu beweisen.
Bei ihm gibt es keine Unschuldsvermutung!
Warum wehren sich nicht die Universitäten gegen dieses „Geschäftsmodell“, das ja ihre Qualität als Prüforgane massiv in Zweifel zieht? Wer, wenn nicht die Universitäten sind befugt, diesen selbsternannten Kontroller zu kontrollieren? Warum untersucht niemand, wieviel von Webers Plagiats-Verdächtigungen sich schon in Luft aufgelöst haben? Warum hören die Medien nicht auf, über Webers reine „Plagiats-Verdächtigungen“ zu berichten? Eine Verjährungsfrist für Plagiatsfälle, wie von der Universitätskonferenz vorgeschlagen, könnte ein erster Schritt sein.
4. Frage
Warum wehrt sich die Medien-Branche nicht dagegen, dass wissenschaftliches mit journalistischem Arbeiten gleich gesetzt wird?
Ein Zeitungsartikel ist keine Doktorarbeit, da gibt es fundamentale Unterschiede. Gesichertes Wissen in einen Artikel einzubauen, ohne jedesmal die Quellen zu nennen, ist bei kein Plagiat, ebensowenig wie die Übernahme früherer Artikel oder Agenturmeldungen. Es liegt an den Medien selbst, mehr über die eigene Arbeit aufzuklären und sich als Branche einer Selbstkontrolle zu stellen, die angesichts neuer Entwicklungen durchaus nach zu schärfen ist.
5. Frage
Warum gibt es nicht mehr Schutz für Journalistinnen und Journalisten durch die Medienhäuser bzw. Verlage?
Warum ist Österreich (wieder einmal) säumig und setzt die bereits beschlossene Richtlinie der EU nicht endlich um? Journalisten und Medien sind in der Öffentlichkeit exponiert und stehen mit ihren Arbeiten immer in der Auslage. Technisch ist es über digitale Kanäle möglich, kritische und missliebige Gegenstimmen mit Hilfe von Shit-Storms gezielt mundtot zu machen oder einzuschüchtern. Das kann für politische Zwecke, persönliche Rachespiele oder Machtkämpfe genutzt werden. Eine exponierte Persönlichkeit eines Mediums herauszugreifen, um das gesamte Medium unglaubwürdig zu machen, ist eine mögliche Taktik, gegen die sich Medienhäuser wehren müssen. Medien haben darüber hinaus die Möglichkeit, solche Machenschaften öffentlich machen – nach gründlicher Recherche, für die sie ausreichend Zeit und Ressourcen einsetzen müssen. Es ist für die ganze Branche selbstschädigend, sich mit Kampagnen gegenseitig zu bekämpfen.
6. Frage
Warum gelingt es uns als Gesellschaft nicht, öffentliche Hetzjagd gegen Personen über sogenannte „Social“ Media ist mit allen Mitteln zu stoppen – über die Hatz auf Journalisten und Journalistinnen hinausgehend?
Hetzjagden im Netzt sind schlimmer als im Mittelalter, wo es genügte, eine Person ohne jedwede Beweise zu verdächtigen und an den Pranger zu stellen. Anders als im Mittelalter, wo die Hetzjagd lokal eingegrenzt und zeitlich beschränkt war, haben wir es jetzt mit einer weltweiten Verbreiterung zu tun, bei der ein „Vergessen“ nicht ohne weiteres möglich ist. Warum hören Medien z.B. nicht endlich damit auf, digitale Kanäle und Plattformen als „soziale“ Medien zu bezeichnen! Auch gegen dieses irreführende „Framing“ sollte die Branche geschlossen und entschlossen vorgehen. Es müssen jedenfalls die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich die „Ziele“ solcher Attacken sehr rasch und treffsicher wehren können, ohne dabei ihre ganze Existenz aufs Spiel zu setzen. Eine niederschwellige Anlaufstelle, die mit genug Personal und Geld ausgestattet sein sollte, ist ein Gebot der Stunde.