Seit Jahren sind deutsche Gerichte mit Hunderttausenden Klagen gegen VW zugestopft. Nun geraten die deutschen Richter zusätzlich unter Stress. Sie müssen lernen, wie VW Klagen nach italienischem und österreichischem Recht zu beurteilen sind. Manche Kläger haben damit die Chance, besser auszusteigen als bei Anwendung des deutschen Rechts.
Ausgelöst hat das Ganze der österreichische Verbraucherschutzverein (VSV) im Jahr 2020. Mit dessen Hilfe haben rund 550 Dieselkäufer aus Österreich und Südtirol den VW Konzern direkt in Deutschland geklagt, risiko- und kostenlos mit Hilfe eines Prozessfinanzierers. Nur die ersten 20 Gerichtsverfahren hat VW – wie eigentlich für alle Gerichts-Verfahren angekündigt- mit einem raschen außergerichtlichen Vergleich beendet. Dann änderte VW sein Strategie und zog die gerichtlichen Verfahren bis zum Ende durch, obwohl inzwischen rechtlich völlig klar war, dass VW diese Fälle mit dem Betrugsmotor EA 189 verlieren wird. In einzelnen Fällen ging VW sogar noch in Berufung.Tatsächlich liegen inzwischen rund 40 rechtskräftige Urteile vor, die den Österreichern und Südtirolern Schadenersatz-Zahlungen zusprachen. Sie sind mit 4.000 bis 9.000 Euro teilweise sehr hoch ausgefallen, ohne die Autos zurückgeben zu müssen. Diese Urteile erfolgten nach deutschem Recht, weil diese Autos, alle direkt in Deutschland gekauft worden sind, als „Gebrauchte“ oder beim Hersteller.Da die meisten ihre Autos aber daheim gekauft hatten, müssen die deutschen Richter am Landgericht Braunschweig (VW) diese noch offenen Verfahren nach österreichischem bzw. italienischem Recht durchführen. Weil sich deutsche Richter dabei zu wenig auskennen, haben sie bei einem italienischen und bei einem österreichischen Rechtsexperten jeweils ein Gutachten in Auftrag gegeben. Die Gutachten sollen vorgeben, wie die eingereichten Klagfälle nach dem jeweiligen nationalen Recht zu beurteilen sind. „Für die Gerichte sind diese Gutachten bindend“, teilte mir VSV Vertrauensanwalt André Tittel mit. Bis spätestens Ende März 2022 sollen beide vorliegen, das österreichische zeitlich vor dem italienischen.Die nationalen rechtlichen Unterschiede sind beachtlich. Nach deutschem Recht spielen die gefahrenen Kilometer einer große Rolle. Für sie wird ein Nutzungsgeld berechnet und vom erstrittenen Schadenersatz abgezogen. Je weniger gefahren wurde und je teurer das Auto gekauft wurde, desto mehr Schadenersatz springt heraus. Wer mehr als 250.000 km gefahren ist, kriegt gar nichts mehr.Nach italienischem Recht spielen die gefahrenen Kilometer keine Rolle. Da wird vom Anfangspreis ein gewisser Prozentsatz als Schadenersatz festgelegt. Klarerweise bekommen dabei alle mehr Geld, die ein teureres Auto angeschafft haben. Da es ein fixer Prozentanteil am Kaufpreis ist, können auch jene mit ein paar Hunderten Euro rechnen, die das Auto günstig gekauft haben.Beim österreichischen Recht sticht die Verjährungsfrist als interessanter Vorteil heraus. Bei einer arglistigen Täuschung (=Betrug) kann man 30 Jahre nach dem Betrugsfall noch immer nachträglich klagen. Für die VW-Dieselautos mit dem Betrugsmotor EA 189 steht die arglistige Täuschung seit Mai 2020 mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) fest. Möglicherweise hätten dann auch alle 360.000 Dieselbesitzer für die manipulierten Golfs, Passats, Tiguans, Skodas, Seats , Audis und VW Touaregs der Baujahre 2008-2015 noch Klagchancen, die bisher keine rechtlichen Schritte gegen VW unternommen haben.